Die Zeitdilatation

Die Relativität der Gleichzeitigkeit ist nicht vereinbar mit einer absoluten Zeit. Hängt also auch die Zeitdauer eines Vorgangs vom Bezugssystem ab?

Um diese Frage zu klären, verwenden wir das Modell einer sog. Lichtuhr.

Die Vorstellung einer Lichtuhr geht auf Einstein zurück und beruht auf dem 2. Postulat der speziellen Relativitätstheorie, der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit.

Lichtuhr

Unter einer Lichtuhr versteht man eine Anordnung zweier gegenüberstehender Spiegel zwischen denen ein Photon hin und her reflektiert wird:

Lichtuhr Relativitätstheorie

Das Licht kann sich nur mit der Lichtgeschwindigkeit c bewegen. Die Laufzeit des Lichts ist damit ein Maß für die Zeitdauer.

Durch den Abstand d zwischen den Spiegeln ist die Zeit, die das Licht für den Weg von einem Spiegel zum anderen benötigt, festgelegt mit  t=\dfrac {d}{c}.

Für Hin- und Rückweg beträgt die Laufzeit entsprechend  t=\dfrac {2d}{c}.

Beträgt der Abstand der beiden Spiegel beispielsweise  d=30cm, so beträgt die Laufzeit des Lichts bis zum anderen Spiegel  t=\dfrac {0,3m}{3\cdot 10^{8}\frac {m}{s}}=1ns.

Gedankenexperiment zur Zeitdilatation

Wir stellen uns nun vor, dass sich eine Lichtuhr, wie sie oben beschrieben wurde, mit einer hohen Geschwindigkeit v an der Erde vorbeibewegt (System S’).

Wir wollen vom Standpunkt eines Beobachters auf der Erde (System S) untersuchen, welche Zeit dieser für den Vorgang, dass das Licht einmal zwischen den Spiegeln hin und her reflektiert wird, misst.

In der folgenden Abbildung bewegt sich die Lichtuhr (System S’) relativ zum Beobachter (System S) nach rechts. Es sind jeweils die Zeitpunkte dargestellt, zu denen das Photon an einem der Spiegel reflektiert wird:

Zeitdilatation Relativitätstheorie

Der Beobachter im System S’ der Lichtuhr misst für die Laufzeit eines Lichtsignals, welches zwischen den Spiegeln einmal hin und her reflektiert wird, die Zeitdauer  t'=\dfrac {2d}{c}   (s.o.).

Somit gilt für den Weg zwischen den beiden Spiegeln  d=ct'.     (s. Skizze).

Der Beobachter auf der Erde (System S) nimmt den gleichen Prozess war, wobei sich die Lichtuhr für ihn jedoch bewegt. Daher legt das Licht für ihn den diagonalen Weg zurück, der länger ist als die Strecke d.

Der diagonale Weg beträgt \sqrt {d^{2}+x^{2}}.

Das Licht kann sich jedoch nicht schneller ausbreiten als mit c, die Lichtgeschwindigkeit ist in beiden Systemen gleich (2. Postulat).

Für den diagonalen Weg muss also gelten:     \sqrt {d^{2}+x^{2}}=ct.

Somit ist die vom Beobachter auf der Erde gemessene Zeit t größer als die vom Beobachter in System S’ der Lichtuhr gemessene Zeit t'.

Berechnung der Zeit t gegenüber t’

Wir wollen nun die vom Beobachter auf der Erde gemessene Zeit t berechnen.

Der vom Licht zurückgelegte Weg von einem Spiegel bis zum anderen beträgt für den Beobachter in S nicht d,

sondern  \sqrt {x^{2}+d^{2}}  (s. Skizze).

Die Lichtuhr bewegt sich innerhalb der dafür benötigten Zeit t um die Strecke  x=vt  nach rechts.

Mit dem Satz des Pythagoras ergibt sich

(ct)^{2}=(vt)^{2}+(ct')^{2}        bzw.        (ct')^{2}=(ct)^{2}-(vt)^{2}

Ausmultipliziert erhält man

c^{2}t'^{2}=c^{2}t^{2}-v^{2}t^{2}=t^{2}(c^{2}-v^{2})        \vert :(c^{2}-v^{2})

t^{2}=\dfrac {c^{2}t'^{2}}{c^{2}-v^{2}}=t'^{2}\cdot \dfrac {c^{2}}{c^{2}-v^{2}}

Nun dividieren wir Zähler und Nenner jeweils durch c^{2} und ziehen anschließend die Wurzel.

Damit erhalten wir für die Zeit t:        t=t'\cdot \dfrac {1}{\sqrt {1-\frac {v^{2}}{c^{2}}}}

Der Faktor auf der rechten Seite ist der Lorentzfaktor \gamma, den wir schon mit der Lorentz-Transformation erhalten haben.

Damit lässt sich schreiben:        t=t'\cdot \gamma

Da der Lorentzfaktor stets größer als 1 ist, gilt:  t>t'.

Das bedeutet, dass die Zeit t, die ein Beobachter in S für einen Vorgang in einem relativ dazu bewegten System S’ misst, länger ist als die Zeit für den gleichen Vorgang t' gemessen in S’.

Die Erscheinung, dass die Zeit von jedem Inertialsystem aus für einen Vorgang in einem relativ dazu bewegten System gedehnt erscheint, wird als Zeitdilatation bezeichnet.

Zeitdilatation

Während für einen Beobachter in einem System S’ die Zeit für einen Vorgang t' vergeht, erscheint die Zeit t für den gleichen Vorgang für einen Beobachter in einem relativ dazu bewegten System S gedehnt um den Faktor  \gamma=\dfrac {1}{\sqrt {1-\frac {v^{2}}{c^{2}}}}.

Es gilt:        t=t'\cdot \dfrac {1}{\sqrt {1-\frac {v^{2}}{c^{2}}}}=t'\cdot \gamma

Häufig wird der oben beschriebene Sachverhalt einfach ausgedrückt mit dem Satz:

“Bewegte Uhren gehen langsamer.”

Etwas genauer müsste man sagen:

Relativ zu einem Beobachter bewegte Uhren laufen für diesen Beobachter langsamer (als Uhren, die sich im Vergleich dazu in Ruhe befinden).

Denn wie wir schon bei der Relativität der Gleichzeitigkeit gesehen haben, kann man nicht entscheiden, welches System in Ruhe ist und welches sich bewegt. Das bedeutet, dass jeder Beobachter einen Vorgang in einem anderen relativ dazu bewegten System langsamer ablaufen sieht. Beide Ansichten sind völlig gleichberechtigt, und jeder misst in seinem Bezugssystem die für ihn richtige Zeit.

Diese in seinem Ruhesystem gemessene Zeit ist jeweils die kürzeste gemessene Zeit für einen Vorgang und wird als Eigenzeit bezeichnet.

In einem anderen dazu bewegten System aus wird die Zeitdauer für den gleichen Vorgang größer gemessen.

Ist die Zeitdilatation real?

Das Konzept der Zeitdilatation ist für uns schwer begreifbar, weil es unser Verständnis der Zeit als absolute Größe verletzt.

Wie wir bei der Berechnung des Lorentzfaktors gesehen haben, ist der Effekt der Zeitdilatation vernachlässigbar, wenn die Geschwindigkeiten nicht in der Nähe der Lichtgeschwindigkeit sind. Daher ist er in unserem Alltag nicht bemerkbar, denn im Alltag sind alle Geschwindigkeiten viel kleiner als c. Tatsächlich handelt es sich jedoch eine Erscheinung, die real ist und auch nichts mit der Art der Zeitmessung zu tun hat.

Experimente, in denen Atomuhren in Flugzeugen um die Erde geschickt wurden, haben bereits Anfang der 1970er-Jahre die Vorhersagen und damit die o.g. Gleichung bestätigt.

Bereits früher gab es Experimente mit Elementarteilchen, die man fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen konnte, mit denen die Zeitdilatation bestätigt wurde. Einige dieser Elementarteilchen, wie z.B. Myonen, sind äußerst instabil und zerfallen nach kurzer Zeit bereits wieder.

Lebensdauer von bewegten Myonen bestätigen die Zeitdilatation

Myonen sind Teilchen mit geringer Masse, die sich mit vergleichsweise geringer Energie auf Geschwindigkeiten nahe der Lichtgeschwindigkeit beschleunigen lassen.

Die mittlere Lebensdauer von Myonen beträgt in Ruhe nur 2,2\mu s.

Aufwändige Experimente mit Myonen haben gezeigt, dass Myonen, die sich mit hoher Geschwindigkeit bewegen, eine längere Lebensdauer haben, und zwar um genau den Betrag, der mit der Zeitdilatation vorhergesagt werden kann.

Beispielaufgabe

a) Welche mittlere Lebensdauer hat ein Myon, welches sich mit v=0,6c=1,8\cdot 10^{8}\frac {m}{s}  (v=0,995c=2,98\cdot 10^{8}\frac {m}{s}) relativ zum Labor, in dem die Zeitmessung stattfindet, bewegt?

b) Welche Entfernung legt es zurück, bevor es zerfällt?

Lösung

a) Im Bezugssystem S’ des Myons besitzt das Myon eine Lebensdauer von t'=2,2\mu s. Für einen Beobachter im Labor (System S) lebt das Myon aufgrund der Zeitdilatation länger, die im Labor gemessene Zeit t ist also größer als t'.

Mit der Geschwindigkeit v=0,6c des Myons gegenüber dem Beobachter erhält man mit der Gleichung für die Zeitdilatation für die Lebensdauer t im Labor:

t=t'\cdot \dfrac {1}{\sqrt {1-\frac {v^{2}}{c^{2}}}}=2,2\mu s\cdot \dfrac {1}{\sqrt {1-\frac {0,36c^{2}}{c^{2}}}}=\dfrac {2,2\mu s}{\sqrt {0,64}}=2,8\mu s

Mit v=0,995c erhält man:

t=2,2\mu s\cdot \dfrac {1}{\sqrt {1-0,990025}}=22,03\mu s

b) Nach der klassischen Physik lässt sich die Entfernung aus Geschwindigkeit und Lebensdauer berechnen.

Für den zurückgelegten Weg s gilt:

s=vt=1,8\cdot 10^{8}\frac {m}{s}\cdot 2,2\cdot 10^{-6}s=400m        (In der klassischen Physik gilt: t=t'.)

Die Relativitätstheorie sagt jedoch die längere Strecke

s=vt=1,8\cdot 10^{8}\frac {m}{s}\cdot 2,8\cdot 10^{-6}s=500m        (für v=0,6c)     bzw.

s=2,98\cdot 10^{8}\frac {m}{s}\cdot 2,203\cdot 10^{-5}s=6.570m        (für v=0,995c)

voraus.

Im Experiment wird tatsächlich diese längere von der Relativitätstheorie vorhergesagte Strecke gemessen.

Das Zwillingsparadoxon

Aus der Zeitdilatation sind viele Gedankenexperimente zum Thema Raumfahrt entstanden. Während es nach der klassischen Physik nicht möglich ist, innerhalb der Lebenszeit eines Menschen einen 100 Lichtjahre entfernten Stern zu erreichen (1 Lichtjahr entspricht einer Entfernung von 9,5 · 1012 km), wäre dies nach der Relativitätstheorie möglich – zumindest, wenn das Raumschiff nahezu mit Lichtgeschwindigkeit fliegen könnte.

Nach den Gesetzen der klassischen Physik würde es selbst mit nahezu Lichtgeschwindigkeit über 100 Jahre dauern, den Stern zu erreichen. Aufgrund der Zeitdilatation vergeht jedoch die Zeit im Raumschiff langsamer. Bei einer Geschwindigkeit von 99,9% der Lichtgeschwindigkeit (v=0,999c) vergeht in 100 Jahren von der Erde aus gesehen im Raumschiff nur die Zeit

t'=t\cdot \sqrt {1-\frac {v^{2}}{c^{2}}}=100a \cdot \sqrt {1-(0,999)^{2}}=4,5a

Die Reise würde also aus Sicht des Astronauten nur 4,5 Jahre dauern.

Doch das Reisen mit nahezu Lichtgeschwindigkeit wird auch in ferner Zukunft höchstwahrscheinlich unmöglich bleiben. Nimmt man als Beschleunigung für das Raumschiff (und die Astronauten) die Erdbeschleunigung a = g an, so würde die Beschleunigungsphase auf die oben angenommene Geschwindigkeit fast ein Jahr dauern. Außerdem wäre die Energie, die man dafür benötigen würde, so groß, dass eine technische Realisierung praktisch ausgeschlossen werden kann.

Abgesehen davon könnten die zurückgekehrten Astronauten niemandem, den sie kennen, von ihrer Reise berichten, denn auf der Erde wären ja bereits über 200 Jahre vergangen.

Gehen nur die Uhren im Raumschiff langsamer?

Die Antwort lautet: Nein – alle Prozesse, wie auch der Alterungsprozess, laufen für die Astronauten langsamer ab als für einen Beobachter auf der Erde. Für die Astronauten wären tatsächlich nur 4,5 Jahre vergangen, und für sie würde diese Zeit völlig normal ablaufen.

Wenn die Astronauten nach 9 Jahren zur Erde zurückkehren würden, dann wären auf der Erde bereits über 200 Jahre vergangen. Doch wie lässt sich das mit der Gleichberechtigung aller Inertialsysteme in Einklang bringen?

Bereits kurz nach Veröffentlichung von Einsteins Relativitätstheorie wurde auf dieses scheinbare Paradoxon hingewiesen.

Beim sogenannten Zwillingsparadoxon geht man von der Vorstellung aus, dass ein Zwilling eines 20 Jahre alten Zwillingspaares mit einem Raumschiff mit sehr hoher Geschwindigkeit zu einem entfernten Stern und wieder zurück fliegt, während der andere auf der Erde zurückbleibt.

Da für den Zwilling auf der Erde die Zeit im Raumschiff langsamer vergeht als auf der Erde, altert der reisende Zwilling langsamer. Kehrt dieser nach 20 Jahren auf die Erde zurück, so ist er (je nach Geschwindigkeit des Raumschiffs) vielleicht nur 2 Jahre gealtert.

Der auf der Erde zurückgebliebene Zwilling wäre also inzwischen 40 Jahre alt, während der zurückgekehrte Zwilling erst 22 Jahre alt ist.

Nach dem Relativitätsprinzip und der Gleichberechtigung aller Inertialsysteme müsste jedoch der reisende Zwilling den umgekehrten Standpunkt vertreten und behaupten, dass die Zeit auf der Erde langsamer vergangen sei als im Raumschiff. Er kann jedoch nicht genauso recht haben, denn nach der Rückkehr lassen sich das Alter und die Uhren direkt miteinander vergleichen.

Doch dieser scheinbare Widerspruch lässt sich damit auflösen, dass die Konsequenzen und damit die Berechnungen zur Zeitdilatation nur für Inertialsysteme gültig sind. Die Erde ist (annähernd) ein Inertialsystem, das Raumschiff jedoch nicht. Das Raumschiff muss – wie oben beschrieben – zu Beginn und am Ende der Reise sowie vor und nach dem Umkehrpunkt der Reise beschleunigt werden. Während dieser Beschleunigungsphasen befindet sich der reisende Zwilling nicht in einem Inertialsystem, weshalb die Aussagen des Zwillings im Raumschiff ungültig sind. Daher gibt es tatsächlich kein Paradoxon.

Die Aussagen des Zwillings auf der Erde sind richtig, der reisende Zwilling wäre tatsächlich weniger gealtert. In der allgemeinen Relativitätstheorie werden die Einflüsse von Beschleunigung und Schwerkraft berücksichtigt, und diese bestätigt dieses Ergebnis.